Montag, 11. Januar 2010

Kapitel 1 (3)


Die Straße mündete nach etwa einhundert Metern in eine der Hauptadern, die unweigerlich zum Turm führten und dort nahm der Verkehr zu. Unzählige Sänftenträger kämpften sich mit derben Worten durch die, für sie sehr ärgerlichen Hindernisse herum, versuchten trotzdem im Fluss zu bleiben und ihren Gast nicht allzu sehr durchzurütteln. Vereinzelte Reiter sahen es schließlich ein und stiegen von ihren Pferden oder den viel größeren Valdronen, die mit ihren grünen Zungen und gelben Zähnen schon mal nach der Menge schnappten. Doch trugen sie Maulkörbe, wie es vorgeschrieben war. Trotzdem zuckten die Leute vor den riesigen Biestern zurück, die meist schon mit ihrem Geruch abschreckten und dennoch die schnellsten Geschöpfe in Kherat–Nazin waren und noch darüber hinaus.
Reyna registrierte das alles nur am Rande. Viel mehr interessierte sie die Dämmerung und der Gedanke, dass sie heute eigentlich ihren freien Tag gehabt hätte. Schwalbe regte sich, als er ihren schnelleren Herzschlag spürte und sie presste den Arm fester an ihren Körper, hielt dann auch noch schützend ihre Hand vor ihn. Es hätte keinen Sinn gemacht ihn fliegen zu lassen, er hätte sich nicht bewegt, denn sein Auftrag lautete, sie zu Zephyrim zu bringen. Das ging seiner Meinung nach aber offenbar nur so. Furchtbarer Vogel!
Endlich erschienen die gusseisernen Tore vor ihr, die zu der riesigen Parkanlage führten, welche den Übergang zum Turmgelände ankündigte. Die meisten Straßenlaternen waren aufrecht stehen geblieben, aber einige waren doch eingeknickt, was eine deutliche Erschütterung des Bodens verriet. Sie wurden zwar inzwischen von einigen Lakaien wieder aufgerichtet, doch Reyna runzelte trotzdem die Stirn. Irgendetwas war nicht richtig.
Schwalbe wurde ebenfalls unruhiger, als der Turm hinter den Bäumen auftauchte. Reyna machte sich nach nur einem Blick keine Gedanken mehr um die Knospe, die der Turm darstellte, er wirkte stets so unzerstörbar, ihm konnte nichts passieren. Das hohe Ende, die eigentliche Knospe, verlor sich im mittlerweile glutroten Himmel und so konnte sie nichts ausmachen, was dort oben vor sich ging. Zusätzlich hatte sich eine weiße Wolkenfront um den Turm zusammengerafft und zog die Aufmerksamkeit der Leute förmlich auf sich.
„Schon gut“, murmelte sie grübelnd zu dem schwarzen Raben. „Du musst nicht fliegen.“
Sie beeilte sich, die weißen Marmorstufen hinter sich zu lassen und den Park zu durchqueren. Überall waren Menschen, vereinzelt Elfen, Draaks, sogar Hyde und sie strebten ebenso dem Turm zu. Am Hauptportal drängten sie sich zusammen und Reyna huschte zu einem der Nebenportale, die nur den im Turm arbeitenden Bewohnern Espirals vorbehalten waren. Sie hielt den Raben so, dass er gleich gesehen wurde und sie sich nicht damit aufhalten musste, das Schriftstück vorzuzeigen, welches sie ohnehin nicht dabei hatte.
„Alles klar soweit in der Stadt?“, fragte ein schwarzhaariger Ritter des Wolfsordens.
„Ja, wird schon wieder“, antwortete Reyna lächelnd, daran denkend, dass die Ritter manchmal Frau und Kinder in der Stadt besaßen. Unehelich, da ihnen die Bindung an etwas oder jemanden außerhalb des Ordens verboten war.
Er nickte und Reyna blieb kurz stehen, wo er doch schon so redselig war.
„Wie steht’s mit dem Turm? Hat uns ja ganz schön durchgeschüttelt.“ Sie versuchte ein Grinsen, aber es wurde wohl doch mehr ein Zähneknirschen.
Sein Gesichtsausdruck wurde ernst und er senkte die Stimme, obwohl niemand weiter anwesend war. „Die Magier laufen herum wie verrückt gewordene Hühner. Irgendetwas muss sie ganz schön erschreckt haben.“ Als er Reynas bestürzten Gesichtsausdruck sah, fügte er hastig hinzu: „Aber sicher nur, weil Lori wieder mal Mist gebaut hat. Der Turm ist beständig, er steht seit tausend Jahren.“
Reyna nickte, obwohl ihr flau im Magen wurde. „Sicher.“ Sie lächelte den bärtigen Mann ein letztes Mal an und öffnete dann die Tür. Lori. Der arme alte Magier, der stets so zerstreut war, wurde gern von den anderen herangezogen, wenn wieder einmal ein Regenschauer über die Stadt hernieder ging, obwohl es Hochsommer war und einer der großen Festtage noch dazu.


0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen