Sonntag, 10. Januar 2010

Kapitel 1 (2)


Der Rabe schwebte mit ausgebreiteten Flügeln auf den gefährlich schräg stehenden Tisch und ließ sich auf der oben stehenden Kante nieder. Reyna wusste nie wieso, aber in diesen Momenten hatte sie immer das Gefühl, er mache sich über sie lustig.
Heftig ausatmend wandte sie sich ab und streifte sich das Nachthemd über den Kopf. Das Wasser auf dem Beistellschrank war noch genau dort, wo es sein sollte und Reyna war wieder einmal froh über Noes Voraussicht. Ihre Zimmergenossin war zwar nur zwei winzige Jahre älter, aber verhielt sich stets so, als seien es zwanzig.
Hinter ihr erklang ein lauter Rumps, als der Tisch unter Schwalbes Gewicht doch noch nachgab und in sich zusammenfiel. Reyna zuckte zusammen und runzelte wütend die Stirn.
„Sieh dir das an!“, fuhr sie den schwarzen Vogel an, der sich auf das Bettgestell gerettet hatte. Es war ja eigentlich nicht seine Schuld, aber sie war so wütend, dass sie gern jemanden angeschrieen hätte. Vorzugweise Zephyrim, aber der war nicht da – und selbst wenn, sie hätte es niemals gewagt gegen ihn das Wort zu erheben – und so musste eben sein Diener herhalten.
„Das werde ich melden und du wirst mir alles davon ersetzen!“ Wobei sie sich nicht sicher war, ob dieses seltsame Tier irgendetwas besaß oder überhaupt nur über sich selbst entscheiden konnte.
Sie spürte, wie er sie beobachte, als sie sich bückte, um die Bücher zu retten. Sein Blick kam ihr wie immer so durch und durch menschlich vor, dass ihr mit Nachdruck bewusst wurde, dass sie noch immer nackt im Zimmer stand.
Sie blinzelte ihn wütend an, ließ sich allerdings Zeit damit, zum Schrank zu gehen, um ihre Sachen zu holen. Jene von gestern Abend musste Noe mitgenommen und in die Wäscherei gegeben haben. Sie arbeitete seit kurzem Nachts, was aber noch niemand weiter wusste. Wie immer fühlte Reyna dankbare Zuneigung zu dem hellhaarigen Mädchen und nahm sich vor, dieses mit etwas Schönem zu überraschen.
Als sie die braune, eng anliegende Hose trug und darüber das weiße, einfache Hemd, den dunkelgrünen Wams, der hinten bis an die Knie reichte, vorn bis knapp zur Hüfte, fühlte sie sich bedeutend wohler. Sie schlurfte hinüber zum Bett und griff, auf diesem sitzend, zu ihren Socken. Danach zwängte sie sich in ihre knielangen, schwarzen Stiefel und nahm, noch im Aufstehen, ihren weinroten, bodenlangen Umhang.
„Zufrieden?“, maulte sie den Raben an und deutete seine Kopfdrehung als Zustimmung. „Ist ja gut, ich mach ja schon.“
Sie hielt ihren rechten Arm ausreichend lange neben sich, dass Schwalbe auf ihm Platz nehmen konnte und öffnete die Tür.
In den meisten anderen Räumen war schon niemand mehr, wurde Reyna schnell klar, als sie auf dem Flur stand. Keinerlei Geräusche, kein Knarren, Scheppern oder Fluchen war zu hören. Die meisten Bewohner dieses Hauses hatten, anders als Reyna und Noe, Familie und Freunde am Stadtrand beim Turm und dieser war für gewöhnlich am heftigsten betroffen. So war also alles auffallend still und Reyna nahm an, dass obendrein noch eine Versammlung auf einem der zentralen Plätze einberufen worden war. Die Herolde mussten hier schon vorbeigekommen sein und sie runzelte etwas verärgert die Stirn. Es hatte ihr niemand bescheid gesagt und dabei müssten alle wissen, wie tief ihr Schlaf war und dass man auf ihrer Seite des Hauses nichts von den Dingen mitbekam, die auf der Hauptstraße passierten. Nun gut, vielleicht hatten die anderen auch gedacht, Noe hätte ihr schon bescheid gesagt, aber diese musste noch bei ihrem geheimnisvollen Arbeitgeber sein, was ihre Nachbarn nicht wissen konnten, da Noe das nicht wollte.
Versöhnlicher gestimmt setzte Reyna ihren Weg fort und ignorierte standhaft das antreibende Ziepen von Schwalbes Schnabel in ihren Haaren.
Auf der Treppe blieb sie kurz stehen und betrachtete stirnrunzelnd die feinen Risse, die die Wände bekommen hatten. Da musste der Hausverwalter sicher einen Bauherren holen lassen und würde dies garantiert auf den Mietpreis aufschlagen. Der missmutige, dickbäuchige Mann wartete schon ein volles Jahr darauf, genau das tun zu können und nun war seine Gelegenheit da.
Im zweiten und schließlich im Erdgeschoss bot sich ihr das gleiche Bild. Manchmal waren auch kleinere Stücken von den Wänden gebrochen und feiner Staub rieselte durch die Luft. Seufzend öffnete Reyna die Tür, die nach draußen führte. Also wenigstens hätten die Magier es ankündigen können! Es war ja im Prinzip nichts dagegen einzuwenden, dass sie ihrer Magie nachgingen, ganz im Gegenteil, es erleichterte ja ihrer aller Leben ungemein. Doch musste es immer in Erdbeben, Gewitterstürmen und Feuerkugeln enden?
Mit einem Schaudern dachte sie an ihren ersten Tag bei Zephyrim, als sie etwas berührt hatte, was sie nicht hätte berühren dürfen. Das war ihr eine Lehre gewesen und sie hatte danach nie wieder den Wunsch verspürt, dies zu wiederholen. Oder gar selbst die Kunst der Magie zu erlernen, so wie Zephyrim es ihr angeboten hatte, als er merkte, dass sie sich eingehender mit gewissen Dingen beschäftigt hatte, als seine früheren Gehilfen.
Auf der Straße herrschte ein reger Menschenverkehr, obwohl auch gelegentlich Angehörige anderer Rassen zu entdecken waren. Und natürlich die in Rot und Gold gekleideten Lakaien, die halb Mensch und halb Tier waren. Manchmal besaßen sie eine außergewöhnliche Körpergröße und schüchterten mit ihren Hundegesichtern nicht nur Reyna ein. Oft sah man auch zarte, elegante Gestalten mit Katzen- oder Vogelgesichtern vorbeihasten. Je nach Vorliebe ihres Erschaffers im fünften Turm.
Es gab zwar nun seit einigen Monaten die Vereinigung zur Rettung der Lakaien, die behauptete, es sei falsch, Rassen und Lebewesen zu kreuzen, ja sogar wider der Natur, aber kaum jemand nahm sie ernst. Niemand konnte sich ein Leben ohne die hilfreichen Kreaturen vorstellen.
Reyna wandte sich nach links und fügte sich in den Strom ein. Die Häuserfront, die gegenüber ihres Wohnhauses lag, war nur Verheirateten vorbehalten und sie sah durch die unteren, hell erleuchteten Fenster, wie Frauen und Kinder mit dem Einsammeln der Scherben begannen.


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