Mittwoch, 10. März 2010

Kapitel 2 (gesamt)


„Hier ist dein Zimmer“, sagte der dickbäuchige Mann mit den lichten, grauen Haaren. Er grinste hämisch und Noe sah sofort, dass er allen Grund dazu hatte. Ein Mädchen mit braunen Haaren erhob sich, als sie den Hausverwalter und ihre zukünftige Zimmergenossin erblickte.
„Was soll das bedeuten? Mir ist zugesichert worden, dass ich allein wohnen kann!“ Noe hatte wütend die Stirn gerunzelt und gern ihre Hände um den Hals des hässlichen Mannes gelegt.
„Das mag sein“, antwortete der ihr in einem ätzenden Tonfall. „Aber es ist sonst nichts frei und auch sie hat Gönner.“ Er sagte das, als sei es ein Verbrechen.
Noe schluckte ihre harten Worte hinunter, denn zumindest heute würde sie keine andere Bleibe mehr finden, dazu war es einfach zu spät. Morgen dagegen war ein neuer Tag mit neuen Möglichkeiten. Also nickte sie den, um einen Kopf kleineren, Mann zähneknirschend an, der sich seinen Triumph deutlich ansehen ließ.
Sie knallte ihm die Tür vor der Nase zu, warf ihr Bündel achtlos in den Schrank, wandte sich dann der Fensterfront zu und ignorierte gekonnt das andere Mädchen.
Die Aussicht war mies, eine kleine dreckige und stinkende Gasse lag zwischen diesem und dem nächsten Haus. Sie könnte ohne große Mühe der Familie hinter dem Fenster gegenüber auf das Abendessen spucken.
„Ich bin Reyna“, sagte die andere plötzlich hinter ihr und Noe seufzte tief auf. Es interessierte sie nicht sonderlich, aber diese eine Nacht mussten sie wohl oder übel miteinander auskommen.
„Noe“, antwortete sie ihr also, ohne sich umzudrehen.
„Ich schlafe auf dem Boden und morgen suche ich mir etwas Neues.“ Die Stimme der anderen war rein und ohne Anklage. Noe drehte sich überrascht um. Die großen, blauen Augen ihres Gegenübers strahlten sowohl etwas ehrliches, als auch etwas schalkhaftes aus.
„Wieso willst du das tun?“, fragte Noe bedächtig. Irgendwie rechnete sie mit einer Hinterhältigkeit, die es an dem anderen Mädchen – Reyna, erinnerte sie sich – nicht gab.
„Man hat uns beide betrogen. Auch mir ist ein Raum für mich allein zugesagt worden, aber das lässt sich heute nicht mehr ändern.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Außerdem wird es mir nicht schwer fallen, etwas anderes zu finden.“
Sie sagte das, als wäre es wirklich nichts besonderes, in dieser überfüllten Stadt.
Noe runzelte die Stirn. „Für mich wäre es auch kein Problem!“ Um das mal gleich klar zu stellen.
Reyna lächelte. „Ich weiß. Lass es mich trotzdem tun.“
Noe wusste zunächst nicht, was sie dazu sagen sollte. Aber dann zogen sich ihre Augenbrauen zusammen. „Nein!“
Die andere wirkte überrascht. „Dann willst du ...“
Noe unterbrach sie harsch. „Nein, wir werden uns das Bett teilen, es ist groß genug.“ Niemand war überraschter über diese Worte, als sie selbst. Gekonnt redete sie sich ein, dass sie einzig und allein diesem Glatzkopf von Hausverwalter seinen Triumph nicht gönnte, denn wie sollte sie Vertrauen zu jemanden gefasst haben, den sie keine halbe Stunde lang kannte?
Das Lächeln Reynas schloss ihre Augen mit ein und es war, als würden die Kerzen mit einem Mal heller scheinen.
„Dann lass es uns hinter uns bringen?“ Sie zwinkerte und ging hinüber zu dem kleinen Beistellschrank neben der Tür, auf dem es Krug und Wasser gab.
Noe schluckte, drehte sich wieder dem Ausblick aus dem Fenster zu und fragte sich,
welcher Dämon sie dazu bewogen hatte dies zu tun. Eine Fremde; fast, nicht mehr so ganz.
Sie schloss seufzend das Fenster, zog Stiefel und Socken aus und legte sich dann eng an die Wand. Reyna folgte bald, nachdem sie noch etwas im Schrank gekramt hatte und legte sich dazu.
Sie roch schwach nach Veilchen.


Noe drehte in sich gekehrt die Benachrichtigung aus dem Turm in ihren Händen hin und her. Reyna ginge es gut und sie würde einige Tage im Auftrag der Magier unterwegs sein, stand dort. Mehr nicht.
In dem kleinen Raum, den beide noch immer bewohnten, sah es aus, als wäre ein Wirbelsturm hindurchgefahren, denn der Tisch war komplett in sich zusammengesackt und ließe sich sicher nicht mehr reparieren. Zudem war auch das Geschirr zerbrochen und aus den schönen, ledergebundenen Büchern fehlten ganze Seiten. Reyna musste das sehr mitgenommen haben.
Einige Tage. So lange war Reyna noch nie fort gewesen und überhaupt hatte man sie nur selten irgendwohin geschickt. Alles, was sie normalerweise zu tun hatte, war dafür zu sorgen, dass dieser Magier sich noch in seinen eigenen vier Wänden zurechtfand. Sie hatte oft berichtet, wie wirr und durcheinander es in seinen Räumen im Turm oft war und dass er ständig etwas suchte.
Vielleicht war ja überhaupt nichts dabei, dass man sie fort geschickt hatte, aber vielleicht bedeutete es auch etwas Ernstes. Noes Verstand war inzwischen geschult genug, um eins und eins zusammenzuzählen. Die jüngsten Ereignisse in Espiral und auch darüber hinaus, waren beunruhigend genug. Das Verhalten ihres eigenen Meisters ebenso.
Langsam drehte Noe auch die schwarze Rabenfeder zwischen ihren Fingern hin und her. Dieser komische Vogel war also hier gewesen, um dafür zu sorgen, dass Reyna auch wirklich zum Turm ging und das gefiel Noe nicht, nein, ganz und gar nicht. Und das nicht nur, weil das gefiederte Tier auch immer um das Hauptquartier der Schwarzen Garde herum zu finden war und sich so überhaupt nicht wie ein Vogel benahm.
Da war etwas im Gange, dem sich keiner mehr entziehen konnte und in das man nun auch Reyna mit hinein gezogen hatte. Dabei hatte Noe sie gewarnt! Mit Magiern ließ man sich einfach nicht ein, das Ergebnis war jedes Mal eine verflucht große Katastrophe!
Sie atmete wütend und mit einem Laut, der wie ein Fauchen klang, aus. Es machte keinen Sinn hier zu warten und sich weiter zu fragen, was wohl passiert sein mochte. Am besten war, sie meldete sich bei ihrem Meister zurück. Er würde wissen wollen, ob letzte Nacht alles gut gegangen war und vielleicht wusste er ja auch schon mehr über diese neuerliche Untat des fünften Turmes.
Sie bückte sich dann aber doch noch und hob die Bücher auf. Die losen Seiten sammelte sie ein und versuchte mit einem Ärmel den Schmutz abzuwischen. Es machte wenig Sinn, aber wenigstens hatte sie es versucht. Sorgfältig legte sie alles auf das Bett, auf dem es die größte Chance haben müsste, nicht wieder durch die Gegend geworfen zu werden. Reyna wäre tief traurig, wenn sich von den Schriften nichts mehr retten ließe.
Vor der Tür auf dem Gang, der jedes Mal schäbiger aussah, wenn sie ihn betrat, kam ihr der dickbäuchige Hausverwalter entgegen. Er war blass, doch bildete sich auf seinen Wangen immer wieder dann Zornesröte, wenn er einen neuen Riss oder abgebrochenen Putz entdeckte.
Noe dachte ja gar nicht daran den Mann zu grüßen, wie Reyna es getan hätte. Zwar mochte diese ihn auch nicht besonders, aber sie freute sich jedes Mal, wenn er sich über ihr Lächeln ärgerte, weil er darauf nie etwas zu antworten wusste.
„Heda!“, sprach er die junge Frau missmutig an. „Heute Abend findet eine Hausversammlung statt, wegen der Schäden.“ Er würde sicher eine Mietpreiserhöhung ankündigen. Ach, sollte er doch, sie hatte Wichtigeres zu tun. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging sie an ihm vorbei. Auch, als sie schon ein Stockwerk tiefer war, hörte sie ihn immer noch schimpfen und ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht.

Reyna sah sie stirnrunzelnd an.
„Ich finde, es steht dir sehr gut, ich weiß gar nicht, was du hast.“
Noe sah ihre Zimmergenossin zornig an.
„Es ist rot und hat Stickerein am Ärmel!“, warf sie ihr vor. „So gehe ich auf keinen Fall auf die Straße!“
Reynas Mundwinkel zuckten, aber sie ahnte wohl, dass Noe das ganz und gar nicht komisch fand, beließ es dabei und lachte nicht.
„Ach, komm schon. Wir werden sicher einen wunderschönen Abend haben.“
Noes Blick glitt über das andere Mädchen. Ein hübsches Kleid, ganz in Blau, das die Farbe ihrer Augen betonte und die passende Umrahmung für die fraulichen Züge Reynas bildete.
„Ich tanze auch mir dir!“, versprach diese.
Noe atmete heftig aus und gab sich geschlagen. „Also schön.“ Erschreckt erkannte sie, dass sie sich nun wirklich auf das Fest freute.
Reyna strahlte übers ganze Gesicht und schien enttäuscht, als Noe nicht mit einfiel.
„Lächle“, flüsterte sie traurig. „Lächle bitte nur einmal.“
Noe sah sie irritiert an. „Was?“
„Niemals sehe ich dich lachen, immer bist du so ernst. Bitte lächle. Nur ein einziges Mal, nur für mich“, bat sie sanft und streckte ihr die zarten Finger entgegen.
Noe schluckte. Dann sah sie auf und ihr Blick wurde von Reynas leicht schimmernden Augen gefangen, die fragend und beinahe flehend auf eine Antwort warteten. Blau, so blau. Das sich jemand so um Noe sorgte, schuf eine Wärme um ihr Herz, die sie bisher kaum gekannt hatte und sie spürte, wie ihre Gesichtszüge weicher wurden und sich ihre Mundwinkel nach oben zogen. Sogleich tat Reyna es ihr nach, umarmte sie kurz und zog sie dann hinter sich aus der Tür.


Auf den Hauptverkehrsadern ging es recht belebt zu, im Gegensatz zu gewöhnlichen Tagen. Noe achtete darauf, unerkannt ein Teil der Masse an Körpern zu bleiben und sich dem Treiben anzupassen. Dass sie in die entgegengesetzte Richtung des Turmes wollte, machte es ihr dabei aber nicht besonders einfach und sie schuf sich ein hohes Maß an Konzentration.
Espiral war seit einigen Wochen randvoll mit Draaks und sogar Hyden und niemand wusste wieso. Es war fast, als würden diese aus dem Norden stammenden Lebewesen vor etwas fliehen und sich nun nach einer neuen Siedlungsmöglichkeit umsehen. Sie strebten unaufhaltsam dem Turm zu, da sie sicher die Hilfe der Magier dabei in Anspruch nehmen wollten, von denen auch einige diesen Völkern angehörten. Noe schnaubte.
Draaks waren gar nicht in der Lage zusammenhängend zu denken und es musste ein Akt der Höflichkeit der Turmmagier sein, einen von ihnen in ihre Reihen aufzunehmen. Höflichkeit und die Hoffnung, dass sich diese hässlichen Krötenwesen ruhig verhielten und keinen Ärger machten.
Die Hyde waren filigrane, blauhäutige Wesen mit durchschimmernder Haut, die eigentlich in keinem anderen Klima, als dem des hohen, tiefen Nordens überleben konnten. Wie sie sich das Leben hier in dieser völlig anderen Klimazone vorstellten, war Noe nicht ganz klar. Vielleicht hatten aber all diese Völker auch einen völlig anderen Grund sich hier aufzuhalten. Wer wusste das schon? Sie knirschte mit den Zähnen, als ihr klar wurde, dass es darauf nur eine Antwort gab: Die Magier. Und wieder einmal waren sie alle diesen hilflos ausgeliefert.
Nein, nicht hilflos. Eine Schutzwehr hatten die Bewohner noch.
Die Schwarze Garde.
Eine Organisation, der auch Noe angehörte, die im Geheimen operierte und sich dem Schutz der freien Welt vor den Magiern verschrieben hatte. Sie existierte schon einige Jahrhunderte, aber erst in den letzten fünfzig Jahren war Bewegung in sie gekommen, als sich einige der kleineren Kasten zusammengeschlossen und entschieden hatten, einen gemeinsamen Vorsitzenden zu wählen.
Noe murrte ungehalten, als sie warten musste, weil die Kreuzung total verstopft war mit Sänftenträgern und Valdronenreitern. Noch nicht ganz aus der Stadt hinaus, hatten man den grünzüngigen, stinkenden Tieren bereits die Maulkörbe abgenommen und die Sänftenträger hatten alle Hände voll zu tun, sich die Viecher vom Leib zu halten. Noe ging auf Abstand und rieb sich die Nase, weil der Geruch einfach unerträglich war. Sie bleckte die Zähne, als sie daran denken musste, dass sie sehr viel schneller voran kommen würde, wenn sie sich nach oben auf die Dächer der Stadt absetzen würde, wie sie es in der Nacht meist tat. Am Tag allerdings war es ihr verboten worden, weil man schließlich nie wissen konnte, wer darauf aufmerksam wurde.
Sie bog noch mehrmals ab und schlenderte dann unauffällig in eine der kleinen Seitengassen. Dort wartete sie und lauschte, aber als alles ruhig blieb, ging sie zu einer Tür, die halb in einem Haus und halb im Boden eingelassen worden war.
Von der Straße aus konnte Noe nicht mehr gesehen werden und sie war sich auch ziemlich sicher, dass ihr niemand gefolgt war. Also hob sie das sperrige Holz, das trotz seines oberflächlich schlechten Zustandes nicht einen Laut von sich gab, vorsichtig an und verschwand dann im Inneren.

Reyna war heute spät dran, als sie aber schließlich erschien, hatte sich ein breites Lachen über ihr Gesicht gebreitet.
„Ich bin befördert worden!“, verkündete sie stolz.
Noe atmete auf. „Schön“, sagte sie noch immer ungehalten. Sie hatte extra auf Reyna gewartet mit dem Abendessen und sich gefreut, dass sie mal wieder Zeit miteinander verbringen konnten.
„Ja, nicht wahr? Stell dir vor, ich werde persönliche Assistentin von Zephyrim!“
Noe klappte die Kinnlade nach unten. „Was?!“ Sie würde wirklich bei einem Magier arbeiten und ihre Befehle direkt von ihnen erhalten? Freiwillig?
„Zephyrim, den kennst du doch. Er suchte jemanden und ich habe mich angeboten und nun verdiene ich mehr als doppelt so viel. Ist das nicht toll?“
Also Noe wäre noch einiges andere eingefallen, was das war, aber sicher nicht toll. „Du solltest vorsichtig sein und dich nicht von dem Verdienst blenden lassen“, knurrte sie. „Das bringt nur Probleme, wenn man sich mit denen einlässt.“
Irgendetwas polterte zu Boden und Reyna atmete übertrieben laut aus. „Jetzt hör aber auf! Wenn man dich so reden hört, könnte man glatt glauben du würdest der Schwarzen Garde angehören.“
Noe zuckte zusammen, weil sie sich ertappt fühlte, dabei war da ja wohl wirklich nichts dabei. Und Reyna hatte es nur so gesagt, nicht wirklich daran glaubend.
„Wenn du meine Meinung nicht hören willst, dann bitte schön!“, giftete Noe zurück.
Ihr erster großer Streit und er nahm Züge an, die keine von ihnen gewollt hatte. Also sagten sie nichts mehr und das volle drei Tage lang.


In dem dunklen Kellerraum waren mindestens zwei Menschen. Noe konnte sie nicht sehen, aber ihre Sinne hatten sich in den letzten Monaten rapide verschärft und außerdem war einer von ihnen offenbar zu nahe an die Draaks gekommen. Er stank fürchterlich.
„Ungezieferbekämpfung“, sagte sie und spürte, dass ihr weniger Misstrauen entgegenschlug, so als wäre ein frischer Luftzug durch den kleinen Raum gefahren.
Ein Lichtkegel fiel auf ihr helles Haar, als sich eine Tür öffnete und den Blick auf einen langen Gang frei gab. Noe stieg drei hölzerne Stufen hinauf und folgte dem Weg dann, ohne groß darüber nachzudenken, wohin sie ihren Fuß setzte. Im vorrübergehenden Mutterhaus der Schwarzen Garde fühlte sie sich wie zuhause, obwohl sie sehr gut wusste, dass auch hier das Unheil überall lungern konnte. Man konnte nie wissen, ob nicht jemand der Organisation auf die Schliche gekommen war und sich eingenistet hatte, wie eine Made im Gedärm von Aas.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Noe überlegte nicht lange und griff zu. Sie bog den Arm des anderen auf seinen Rücken, zog im gleichen Moment ihren Dolch und presste den Leib hart gegen die Wand.
„Langsam, langsam“, lachte Astart. „Ich wollte dich nur begrüßen, nicht ermorden.“
Zoe stöhnte innerlich auf. Sie hatte mit dem Mann zusammen angefangen und war mit ihm durch die harte Zeit der Ausbildung gegangen, bis sie beide ihre erste Prüfung bestanden hatten. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie ihn auch mochte. Langsam zog sie ihren Dolch von seiner Kehle und trat einen Schritt zurück. Er löste sich von der Wand, die einen leichten Abdruck auf seiner rechten Wange hinterlassen hatte und zupfte an seiner Kleidung herum. „Mann. Das hätte ins Auge gehen können.“
Er würde nie verstehen, dass er selbst hier wachsam sein musste. „Was willst du?“, fragte sie ihn ungehalten.
Er reckte theatralisch seinen Hals und es knackte hörbar. „Ich wurde zurück gerufen. Es gibt einen Neuankömmling, den man uns vorstellen will.“
Sie zog die Augenbrauen nach oben. „Wen?“
Astart zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber muss ein hohes Tier sein, sie sind ganz aufgeregt.“
Noe nickte und wollte dann wortlos weiter gehen, als er sie zurück hielt.
„Sie sind wütend.“
Sie lachte. „Natürlich sind sie das. Nach den erneuten Beben ist das doch kein Wunder oder?“
„Nein, ich meinte, sie sind wütend auf dich. Ich habe deinen Namen noch nie so oft gehört, wie in den letzten zwei Stunden.“
Noes Gesicht blieb ausdruckslos, auch wenn ihr ziemlich mulmig bei diesen Worten wurde. „Du sollst nicht an den Türen lauschen.“
Er grinste sie an. „Ich wollte dich nur warnen.“
War das ein Zwinkern? Sie stöhnte innerlich, als ihr klar wurde, dass er hier auf sie gewartet haben musste, um mit seinem Wissen bei ihr anzugeben.
„Das brauchst du nicht, ich komme gut allein zurecht.“ Damit ließ sie ihn mit seinem seltsamen Ausdruck in den Augen zurück.
An der letzten Tür standen zwei schwarz gewandete Frauen und sahen ihr neugierig entgegen. Aber sie sagten kein Wort, die Linke der beiden deutete nur mit einem Kopfnicken an, dass Noe eintreten konnte. Einen Moment blieb sie noch stehen und lauschte den Geräuschen hinter der Holzwand. Vorn fertigte eines ihrer Mitglieder Schuhe und verkaufte zuweilen auch ein Paar davon, damit sich niemand fragte, was in diesem Haus wirklich vor sich ging.
In dem kleinen Raum gab es zwei Tische mit unzähligen Pergamenten und riesigen Regalen an der Wand, die ebenfalls voller Pergamente waren. Noe blieb ruhig stehen, bis sich eines davon verschob und der Sekretär ihres Meisters sie hineinwinkte.
Nazan Brint war unglaublich hager und wirkte mit seiner Hakennase immer wie ein Greifvogel auf sie. Einer, der genau wusste, wie man sich am besten im vollen Flug auf sein Opfer am Boden stürzte. Seine Augengläser waren nach unten gerutscht und er sah sie darüber hinweg streng an, als sie kurz zögerte. Es nutzte nichts. Wenn man ungehalten über sie oder ihre Arbeit war, musste sie die Strafe akzeptieren und sich das nächste Mal eben besser anstrengen.

Noe biss sich auf die Lippe, um nur keinen Ton von sich zu geben. Sie wollte Reyna nicht beunruhigen und setzte sich langsam auf den harten Stuhl. Sie spürte die Blicke des anderen Mädchens, lächelte und griff dann zum Löffel. Einfach nur Suppe, einen Schluck nach dem anderen.
„Was ist mit dir?“, fragte Reyna.
„Nichts, was soll mit mir sein?“ Sie hatte keine Schmerzen und das versuchte sie in diese Frage zu legen. Die blauen Augen verdunkelten sich.
Als Noe sich für einen weiteren Löffel hinunterbeugte, sprang Reyna urplötzlich auf und riss ihr die zerrissene Bluse hoch, die sie unter dem kurzen Umhang eigentlich hatte verbergen wollen. Und stieß einen leisen Schrei des Unglaubens aus.
„Wer hat dir das angetan?“ Tränen schimmerten in ihren Augen.
Mein Meister, hätte ihr Noe beinahe geantwortet. Er war unzufrieden. Ich habe etwas falsch gemacht und muss nun mit den Konsequenzen leben, ganz einfach. Aber das konnte sie unmöglich sagen, also fing sie an, die andere zu belügen.
„Ich bin dazwischen gegangen, als einer der Lakaien ausgepeitscht wurde. Das war ungerechtfertigt. Das fand der Ritter aber nicht besonders gut, also habe ich auch noch was abbekommen.“
Reyna sah sie ungläubig an. „Ein Ritter hat das getan?“
Klar, die arbeiteten für den Turm, da konnten sie ja nichts tun, was dieser Welt schadete. Aber sie schwieg nur mit zusammengepressten Zähnen und nickte.
„Zieh das aus, ich muss die Wunden säubern.“
Noe wusste nicht, ob ihr Meister das erlaubte, aber im Moment würde sie wohl kaum etwas dagegen unternehmen können. Es war kalt im Zimmer und sie spürte, wie die feinen Härchen auf ihrer Haut sich aufstellten. Unangenehm berührt hielt sie den rechten Arm vor ihre Brüste, da stellte sich auch etwas auf und das musste Reyna nicht unbedingt sehen.
Vorsichtig glitt ein feuchter Lappen über ihren Rücken und das Wasser in der Schüssel färbte sich rasch rot.
„Ich werde Zephyrim bitten, mir eine Heilsalbe herzustellen, er kann so etwas ziemlich gut.“
Noe zuckte zusammen. „Ich will nichts von einem Magier!“ Als Reyna ihr widersprechen wollte, warf sie ihr einen scharfen Blick über die Schulter zu. Eines Tages würde die andere Fragen stellen und Noe wusste nicht, was sie dann antworten sollte. Vielleicht ging es ihnen beiden so und vielleicht hangelten sie sich deswegen auch an bestimmten Themen vorbei.
Ein Geräusch am Fenster ließ Noe aufsehen. Sie blickte direkt in die schwarzen Augen eines Raben.

Ihr Meister sah auf, als sie hinein kam. Sein Gesicht verriet nicht, was er dachte, aber er schien sie abschätzig zu mustern. Die kantigen Züge von Volan Andrys, in die sich mit den Jahren nur wenige Falten geschummelt hatten, wirkten stets so unberührbar und kalt wie Stein. Noe hatte ihn nie anders erlebt.
Brint winkte sie näher an den Tisch ihres Meister heran. Das Holz war dunkel und geschliffen, geheimnisvolle Muster wirbelten über die Oberfläche und verschwanden unter Pergamenten, Büchern und sogar einigen Dolchen. Zwei Becher standen am Rand, einer davon noch unberührt und erst da wurde Noe klar, dass sich noch jemand im Raum befand. Der hochgewachsene Mann wandte ihr den Rücken zu. Mit dem linken Arm stützte er sich am Sockel des Kamins ab und mit der rechten stocherte er wie gelangweilt mit einem Eisen in der kalten Asche. Breite Schultern, sehnig, garantiert gewandt und schnell, ging es Noe durch den Kopf. Aber man würde sie sicher nicht gegen ihn kämpfen lassen, nicht hier. Wäre er ein Feind, wäre er nie so weit gekommen.
Andrys sagte noch immer kein Wort und Noe wurde klar, dass er dem anderen Mann Zeit geben wollte, sie offiziell zu bemerken. Dieser Gedanke ließ eine leichte Zornesröte auf ihren Wangen erscheinen, bevor sie sich wieder in der Gewalt hatte.
„Wir haben auf dich gewartet“, sprach er schließlich. Sie wusste nicht, ob das ein Tadel sein sollte.
„Es ist noch etwas Unvorhergesehenes dazwischen gekommen.“ Auf seine hochgezogenen Augenbrauen fügte sie an: „Nichts, was für die Garde von Belang wäre.“
Die Schultern des Fremden zuckten, als er leise lachte. Seine Stimme war rau, auch wenn er sehr leise sprach. „Bist du da sicher?“
Noe runzelte die Stirn. „Natürlich.“
„In Zeiten wie diesen ist alles von Belang für die Garde, Mädchen.“ Wie raschelendes Laub, fuhr es Noe durch den Kopf.
„Meine Mitbewohnerin ist vom Turm für einige Tage wegbeordert worden.“ Wenn er es denn nun unbedingt wissen musste, bitte schön!
Ihr Meister sprang auf und fluchte. „So bald? Wo ist sie hin?“
„Das weiß ich nicht“, sagte Noe verunsichert. Plötzlich schnürte es ihr die Luft ab, als sich Hände wie Krallen um ihre Kehle legten. Es war der Fremde, sie hatte nicht einmal gemerkt, wie er sich ihr genähert hatte. Seine Augen blitzten golden auf, aber das erste, was sie dachte war, dass er gar nicht so alt war, wie sie zunächst geglaubt hatte.
„Du lügst!“
Noe krächzte, aber dann obsiegten ihre Sinne, ihr Instinkt und die Ausbildung, die man ihr hatte angedeihen lassen. Sie packte blitzschnell mit der Linken zu und noch ehe er auf das Ablenkungsmanöver reagieren konnte, hatte sie ihn schon mit der Rechten mit ihrem Dolch in den Arm geritzt. Er war überrascht und sie glaubte nicht, dass das oft geschah. Nur langsam ließ er sie los und sie würgte ein paar Mal, ehe sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Dunkles, fast schwarzes Blut tropfte zischend auf den Boden.
„Tut das nie wieder“, fuhr sie ihn an. „Sonst bringe ich Euch um, wer immer Ihr auch sein mögt.“ Und sie meinte jedes Wort!
Er sah ihr tief in die Augen und machte wieder dieses raue Geräusch, das er wohl selbst für Gelächter hielt. „Sie gefällt mir, ich nehme sie.“
Noe horchte auf und runzelte die Stirn, aber Andrys winkte nur ab. „Ja, ja. Aber was ist mit der anderen? Wenn er sie fort geschickt hat, dann weiß er etwas.“
Der Fremde warf ihr einen letzten Blick zu und trat dann zum Schreibtisch. Er leerte den Becher in einem Zug.
„Und wenn schon. Jetzt kann er ohnehin nichts mehr machen. Lass uns lieber zu den anderen gehen.“
Noe blieb nichts anderes übrig, als den beiden verwirrt zu folgen. Brint blieb und es sah beinahe so als, als würde er seine Sachen zusammen packen.
Sie stiegen im Gang eine Treppe nach oben, die sich hinter einer weiteren Tür verborgen hatte. Die Fenster auf dieser Seite des Hauses waren zugemauert worden, damit sich kein Lichtstrahl nach draußen stehlen konnte. Fackeln erhellten die Umgebung, denn die künstlichen Lichtquellen der Magier wären einem schieren Verrat gleichgekommen.
Zuerst stieg Andrys hinauf, dann Noe und ihr im Nacken der Fremde, der sich ihr nicht vorgestellt, aber offenbar ihr Leben gefordert hatte. Und es erhalten, wenn sie sich nicht irrte.
Kleine Fühler, wie hunderte Ameisen krochen über Noes Haut, aber sie blieb äußerlich kühl. Es fiel schwer, nicht zum Dolch zu greifen.
Oben waren schon alle versammelt. Man hatte einige der Trennwände entfernt um mehr Platz zu schaffen und so glich die obere Etage einem Versammlungssaal. Es waren nur wichtige Führer einzelner Zellen anwesend, wie Noe schnell klar wurde. Diese und einige noch in der Ausbildung befindliche Kadetten, wie sie selbst. Als sie zu jenen treten wollte, schüttelte Andrys unmerklich den Kopf und winkte sie an seine Seite.
Köpfe hoben sich, Arme wurden verschränkt, Blicke getauscht. Einige der Frauen musterten den Neuankömmling etwas genauer, Astart runzelte die Stirn, als Noe nicht herüber kam.
„Vor einigen Wochen erhielt ich einen Brief“, hob Andrys an. „Ich gab den Inhalt an euch weiter. Der Erste Turm hoch im Norden ist gefallen, die Hyde zurückgeschlagen.“
Er machte eine wirkungsvolle Pause und ließ seinen Blick über die anwesenden Köpfe schweifen. Nur die Kadetten hatten überrascht aufgekeucht, ansonsten waren die Mienen aller so unbeweglich wie die Wände, die sie umgaben.
„Hier nun bringe ich euch den Mann, der die Operation geleitet und zum Erfolg geführt hat. Sein Name ist Jaiman Isham.“
Die Gesichter wandten sich dem Fremden zu und unvermittelt brachen alle Anwesenden in Applaus aus. Ein Turm vernichtet! Und diese blauhäutigen Eiswesen ebenso.
Noe klatschte ebenfalls, denn so etwas gehörte gebührend gefeiert und geehrt, aber sie fiel nicht in diesen frenetischen Jubel ein. Darum also waren all diese Fremden in der Stadt und ließen sich hier nieder. Sie wusste, dass das eines Tages passieren musste, aber das man wirklich einen Turm der Magier und die Zauberer selbst dem Erdboden gleich machen konnte, daran hatte sie immer leichte Zweifel gehegt. Nach allem, was Reyna ihr über Zephyrim erzählt hatte, hätte das eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit sein müssen. Dieser Mann musste im Besitz einer grandiosen, einer tödlichen Waffe sein, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte.
Langsam ebbte der Applaus ab und Isham trat nach vorn. Noe war erstaunt, denn sie hätte von diesem Mann keine Rede erwartet.
„Es wird Zeit für den nächsten Abschnitt unseren Planes.“
Die Männer und Frauen in der unscheinbaren Kleidung nickten verhalten.
„Geht in die unterirdischen Räume, die man euch anlegen ließ. Nehmt nur mit, wem ihr uneingeschränkt vertraut. Wartet dort, ihr werdet wissen, wann es Zeit ist, wieder in Erscheinung zu treten. Die Zeit unseres Triumphes ist nah!“
Noe schluckte. Was sollte das bedeuten?
Isham nickte und blieb ungerührt stehen, als Zellenführer um Zellenführer nach einer leichten Verbeugung an ihm vorbei ging. Astarts Wangen wiesen ein zartes Rot auf und seine blauen Augen leuchteten vor Erregung. Er nickte Noe heimlich zu, damit sie ihm folgte, aber sie blieb wo sie war.
„Geh und verabschiede dich von deinem Freund“, sagte Isham, ohne sie anzusehen.
„Er ist nicht mein Freund.“ Noe bewegte sich nicht.
Andrys trat hinter sie. „Du gehst mit Isham, er ist ab sofort dein neuer Meister. Und tu mir einen Gefallen.“ Er sah sie stirnrunzelnd an. „Stell dich bei ihm nicht so linkisch an, wie bei mir.“
Noe atmete tief ein und biss sich auf die Zunge, sonst hätte sie etwas gesagt oder getan, dass ihr wenig später nur umso bedauerlicher vorgekommen wäre. Sie verbeugte sich, um ihm die letzte Ehrenbezeugung in diesem Leben zu geben. Niemals wieder würde sie vor diesem Mann katzbuckeln und wenn sie sich dafür den rechten Arm abschneiden musste!
Ihr alter Meister hob nur eine Augenbraue, als sie nichts erwiderte, drehte sich dann um und folgte den anderen.
Isham drehte sich ihr zu, als sie allein waren und musterte sie von Kopf bis Fuß. Er kam näher und begann, Noe zu umrunden. Sie spürte mehrere Minuten lang seinen Atem im Nacken, rührte sich aber nicht.
„Kämpfe hast du bisher noch nicht viele ausgetragen.“
Sie schluckte. „In den wenigen habe ich mich gut geschlagen.“ Es klang viel zu sehr nach einer Entschuldigung.
„Dann beweise es!“ Er trat ihr von hinten in die Kniekehlen und sie hörte ein scharrendes Geräusch, als er einen Langdolch zog.
Blitzschnell rollte sie sich von der knienden Position, in die sie gefallen war zur Seite und packte ihren eigenen Dolch. Er wollte sie testen, das hatte Andrys auch getan und Orant vor ihm. Nun, sie würde nicht klein bei geben und vielleicht konnte sie ihn ja sogar überraschen.


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