Freitag, 8. Januar 2010

Kapitel 1 (1)


Reyna schreckte hoch und wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Verwirrt blinzelte sie in das Halbdunkel des Raumes und seufzte.
Der Tisch hielt sich gerade eben noch in einer gefährlichen Schräglage, da die Holzscheite unter seinem kurzen Bein verrutscht waren. Die Flasche, in der eine halb herunter gebrannte Kerze steckte, stand nach wie vor aufrecht in der Mitte des Tisches, aber nur, weil das nach unten getropfte Wachs sie dort festhielt.
Die in Leder gebundenen Bücher und die losen Blätter hatten weniger Glück gehabt. Sie waren unweigerlich auf den Boden gerutscht und teilweise sogar in das am Abend benutzte Geschirr gefallen.
Das war nicht gut, denn es waren nicht ihre eigenen Bücher und das mit dem Tisch in letzter Zeit einmal zu oft passiert. Zum Glück waren die Becher nicht aus Glas oder Porzellan, wie jene im Turm, denn sonst wäre ihnen ein unheilvolles Schicksal bestimmt gewesen. Aber auch das beständigste Holz bekam irgendwann unweigerlich ein paar Risse, wenn man es hin und her warf.
Sie rollte mit den Augen und wollte sich gerade aufsetzen, als der Boden erneut zu vibrieren begann. Erst ganz sacht, waren seine Bewegungen kaum zu spüren und sie glaubte schon, sich geirrt zu haben. Aber dann begann ihr Waschgeschirr auf dem kleinen Beistellschrank an der Wand gleich neben der Tür zu klirren und in dem Maße, wie der Boden seine Bewegungen verstärkte, so schwoll auch das Klappern an. Wie gut, dass die Schüssel, in die man das Waschwasser aus dem Krug goss, fest am Holz des Schrankes befestigt war.
Die Hände fest an den Bettkasten geklammert, wagte sie kaum zu atmen und wurde ziemlich durchgeschüttelt. Feiner Staub und Mörtel rieselten von Wand und Decke und bewegten sich wabernd durch die Luft. Einige der losen Blätter flatterten vom Tisch, auch das letzte Buch rutschte mit einem Knall zu Boden und verfehlte dabei nur knapp einen der Teller.
Reyna hustete, als die Erde wieder langsam zur Ruhe kam und hörte dann auch schon die ersten gedämpften Schreie. Wütend entspannte sie sich im Liegen und schloss die Augen. Es war doch jedes Mal das gleiche! Und schon wieder nicht angekündigt!
Mit einem heftigen Ausatmen schlug sie die Augen wieder auf und quälte sich lustlos aus dem Bett, denn an Schlaf war in dieser Nacht ohnehin nicht mehr zu denken.
Barfuss ging sie über die kalten Holzdielen durch die Gräue der endenden Nacht hinüber zur Fensterfront und öffnete das Glas, um hinauszusehen. Der Geräuschepegel nahm abrupt zu und sie roch sofort, dass wieder irgendetwas in Flammen aufgegangen war.
So weit nach vorn gelehnt, wie sie konnte, drehte sch Reyna mit aufgestützten Ellenbogen den Kopf nach rechts und sah hinauf zum Turm.
Die schlanke Konstruktion, die Reyna immer an eine langstielige Rosenknospe erinnerte und die sich bis weit in den Himmel zog, war hell erleuchtet. Hinter allen Öffnungen strahlte gelbes, grünes oder purpurfarbenes Licht, was bedeutete, dass jeder einzelne Magier an was auch immer hier geschehen war, beteiligt gewesen sein musste. Großartig!
Aber Zephyrim, ihr Arbeitgeber, sollte sich bloß nicht einbilden, dass sie diesmal so einfach darüber hinweggehen würde. So eine große Sache hätte nun wirklich angekündigt werden können und er hatte ganz eindeutig ein paar direkte Worte verdient!
Plötzlich blinzelte sie, als ihr Blick sich auf das obere Ende des Turmes richtete. War das Einbildung? Nein, die Knospe war tatsächlich in Bewegung geraten und schien sich zu öffnen. Doch da war noch mehr. Graue Schatten bewegten sich im Nebel.
Sie erschrak.
Die Magier hatten die Drachen gerufen? Dann musste etwas geschehen sein und etwas ernstes noch dazu. Aber was immer es war, es ging nur die Magier etwas an.
Die Leine, die sie zwischen ihrem Fenster und einem des Nachbarhauses gespannt hatte, um ihre Wäsche zu trocknen, pendelte hin und her, als sich ein Rabe auf ihr niederließ.
Reyna zuckte zusammen und wäre fast vorn über gefallen, konnte sich im letzten Moment aber noch fangen und starrte das Tier wütend an. Langsam hüpfte der Rabe näher und sie stöhnte.
Da öffnete sich im Haus gegenüber, schräg unter ihr im zweiten Stockwerk, ein Fenster und ein verschlafenes Gesicht starrte hinaus. Reyna lächelte und gab ihrer Freundin ein paar Augenblicke, um sich zu orientieren.
Zilli hatte unverkennbares rotes Haar, welches ihr in kurzen Wellen auf die Schultern fiel und ihre Sommersprossen auf der kleinen, spitz zulaufenden Nase wurden von Jahr zu Jahr immer mehr. Sie lebte zusammen mit ihrer Mutter und zwei Schwestern in einem Raum, der kleiner war als Reynas eigener, aber sie beklagte sich nie.
Zuerst starrte sie nach unten in die enge Seitengasse, die die beiden Häuser trennte. Als Kinder hatten sie noch mit ausgestreckten Armen durchlaufen können, aber jetzt waren sie beide der Enge dort unten entwachsen. Außerdem wurde es schon am frühen Nachmittag stockfinster da unten und man konnte nie wissen, was vor einem auf dem Boden lag und sich vielleicht gar noch bewegte.
Zilli reckte sich nun auch so weit vor, wie sie nur konnte und spähte hinauf zum Turm. „Verfluchte Magier“, brummelte sie ungehalten.
„Lass das nicht deine Mutter hören“, antwortete ihr Reyna halb mahnend und halb spöttisch mit grinsendem Gesicht.
Zilli ruderte, aus dem Gleichgewicht gebracht, kurz mit den Armen, fing sich dann wieder und blickte wütend nach oben. Als sie erkannte, wer da mit ihr gesprochen hatte, lächelte sie leicht verschämt und nickte. Dann deutete sie auf den Raben.
„Muss ja enorm wichtig sein, wenn er dir jetzt seinen Diener schickt.“
Reyna nickte. „Glaube ich auch.“
Zilli lächelte noch breiter.
„Und? Willst du dich nicht beeilen?“
Reyna schob, doch ein wenig errötend, die Lippen vor und schüttelte den Kopf. „Soll er doch sehen, wie er ohne mich zurechtkommt. Vielleicht begreift er ja dann, dass er auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut ist.“
Sie grinsten sich beide an, bis Zilli auf mehrere Rauchsäulen auf der gegenüberliegenden Seite des Turmes deutete. „Was denkst du, ist es diesmal?“
Reyna zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht wieder ein Kornspeicher. Oder eine der alten Mühlen.“
„Ich glaube, es ist die Brauerei.“
Sie sahen sich verschwörerisch in die Augen.
„Eine Tüte Saure Drops?“, fragte Reyna und Zilli nickte lächelnd.
„Ja gut, abgemacht. Aber jetzt muss ich sehen, was Mutter diesmal an Entschuldigungen findet“, erklärte sie mit einem Seufzer.
Reyna lächelte still in sich hinein. Zillis Mutter war hier in E’spiral unter der Herrschaft des fünften Turmes geboren und das hatte sie natürlich sehr geprägt. Anders in etwa als ihre Kinder, die trotz der gleichen Herkunft kein so unerschütterliches Vertrauen in die Magier und ihre Türme besaßen.
Reyna schrak aus ihren Gedanken auf, als Schwalbe, der Rabe, vor ihr auf das Fensterbrett hüpfte. Sie musterte ihn, ohne das Gesicht zu verziehen und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie Zephyrim diesem hässlichen Tier so einen Namen hatte geben können.
„Ja gut, komm rein. Ich bin gleich soweit.“
Missmutig ließ sie ihn hinein und schloss sorgfältig das Fenster.


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